Es gibt keine echte Wertschätzung ohne Respektlosigkeit.
Wertschätzung und Selbstwertgefühl
Wenn vom Selbstwertgefühl die Rede ist, scheint jeder zu wissen was gemeint ist. Doch umso genauer man hinschaut umso widersprüchlicher werden die Aussagen. Nach Alfred Adler hat Narzissmus seine Ursache in überkompensierten Minderwertigkeitsgefühlen. Der Narzisst versucht mit Größen- und Allmachtsphantasien seinen Mangel auszugleichen. Doch was genau bedeutet dieses für das Selbstwertgefühl? In Bezug auf die Minderwertigkeitsgefühle scheint es erniedrigt zu sein und in Bezug auf die Größenphantasien erhöht. Mitunter ist gleichzeitig von einem Selbstwertverlust und einer Aufblähung des Selbstwertgefühls die Rede. Was aber genau sind Selbstwert oder Selbstwertgefühl?
Aus meiner Sicht sind es zum größten Teil unbewusste Selbstbewertungen, welche in mindestens drei verschiedene Arten bzw. Bereiche unterscheidbar sind. Das innere seelische Selbstwertgefühl hängt eng mit Urvertrauen und Gewissen zusammen. Es ist nicht direkt beeinflussbar, da Vertrauen und Vorwürfe aus dem sozialen Umfeld nur indirekt durch das eigene Handeln beeinflusst werden können. Das gleiche gilt in ähnlicher Weise für das äußere soziale Selbstwertgefühl. Es ergibt sich aus der realen Wertschätzung und Entwertungserfahrungen aus dem sozialen Umfeldes. Den dritten Bereich, welcher die durch Selbstvertrauen und Selbstvorwürfe erwartete Wertschätzung beinhaltet, möchte ich als erwartetes imaginäres Selbstwertgefühl bezeichnen. Dieser ist im Gegesatz zu den beiden anderen Autosuggestionen zugänglich. In ihm werden Hoffnungen und Wünsche aber auch Befürchtungen und negative Glaubenssätze wirksam. Ein Stück weit könnte man die Gegenüberstellung von seelischem und sozialem Selbstwertgefühl auf der einen Seite und imaginärem Selbstwertgefühl auf der anderen vergleichen mit Freuds Gegenüberstellung von Realitätsprinzip und Lustprinzip, da das Lustprinzip ebenso wie das imaginäre Selbstwertgefühl unabhängig vom sozialen Umfeld aktiv werden kann, und ihr jeweiliger Gegenpart nicht. Ein gewichtiger Unterschied scheint mir jedoch darin zu bestehen, dass moralische Glaubenssätze, Gewissen und Wertvorstellungen, welche dem Realitätsprinzip zuzuordnen wären, sich in meinen Unterscheidungen über beide Bereiche des Selbstwertgefühls verteilen. Dies ist möglicherweise der Grund, warum mir Freuds Unterscheidung einen moralistischen Beigeschmack zu haben scheint.
Für Narzissmus wäre folgende Erklärung möglich. Durch ein Wechselspiel aus angeborenen Dispositionen und Kränkungen z.B. durch emotionalen Missbrauch entwickeln Personen ein erniedrigtes seelisches Selbstwertgefühl. Da es nicht möglich ist, dieses dauerhaft zu verdrängen, versuchen sie es durch ein übersteigertes imaginäres Selbstwertgefühl in Form eines Größenselbst zu kompensieren. Ihre damit verbundenen übersteigerten Geltungsansprüche versuchen sie durchzusetzen indem sie ihr soziales Umfeld manipulieren. Der Erfolg dieser Bemühungen wiederum hat Einfluss auf ihr soziales Selbstwertgefühl und somit auf die Frage, wie sozial extrovertiert sie sind. Insgesamt betrachtet haben Narzissten ein übersteigertes Selbstwertgefühl, da das erniedrigte seelische Selbstwertgefühl die meiste Zeit über erfolgreich verdrängt wird.
Ein Stück weit spiegelbildlich ließe sich die Entwicklung von Autismus erklären. Unstrittig ist, dass bei Autismus mehrere angeborene Dispositionen eine Rolle spielen. Auch wenn es eine extreme Vielfalt an unterschiedlichen Ausprägungen von Autismus gibt, erscheint mir die verbindende Gemeinsamkeit eine mehr oder weniger stark erschwerte und dadurch verzögerte soziale Entwicklung bedingt durch sensorische Überforderungen zu sein. Die Ursachen hierfür können eine Filterschwäche, eine erhöhte sensorische Sensibilität, eine Intelligenzminderung oder eine Kombination aus diesen sein. Die Folge sind zwei sich gegenseitig bedingende mehr oder weniger stark ausgeprägte psychosoziale Dynamiken. Die eine ist ein Wechselspiel aus negativem Feedback aus dem sozialen Umfeld auf die verzögerte soziale Entwicklung, einem erniedrigten sozialen Selbstwertgefühl und eine weitere Reduzierung sozialer Interaktionen und somit eine weitere Verzögerung der sozialen Entwicklung. Damit zusammenhängend entwickeln sich zum Teil als Kompensation für das erniedrigte soziale Selbstwertgefühl übersteigerte Gerechtigkeitsansprüche die zusammen mit einem ausgeprägten Idealismus ein erhöhtes seelisches Selbstwertgefühl zur Folge haben können. Dieses wiederum kann sozialen Rückzug, Gerechtigkeitsansprüche und Idealismus weiter verstärken. Insbesondere der Rückzug in sich selbst ermöglicht es ein hohes seelisches Selbstwertgefühl gegen äußere Bedrohungen zu bewahren. Ebenso wie eine Maskierung des eigenen Autismus, um sozial kompatibler interagieren zu können, führt dieses jedoch zu einer Verdrängung eigener Gefühle.
Die Beziehungen zwischen Autismus und Narzissmus können auf mehrere Arten toxisch sein. Der Gerechtigkeitsanspruch von Autisten kann gerade Narzissten besonders herausfordern. Andererseits sind Narzissten oft verwundert darüber, wie einfach es ihnen fällt Autisten zu manipulieren. Insbesondere ihr Idealismus, ihre mangelhaften sozialen Fähigkeiten oder kognitive Belastung durch aufwendiges Maskieren machen sie zu leichten Manipulationsobjekten.
Aktuell verschärft sich der Konflikt zwischen Autismus-Bewegungen innerhalb einer zunehmend narzisstischen Mehrheitsgesellschaft. Historisch betrachtet sind diese Bewegungen sehr jung, nichtsdestotrotz in sich extrem widersprüchlich. Von Autism Speaks wird Autismus regelrecht dämonisiert . Andere wie Aspies For Freedom versuchen mit einem Autistic Pride Day gegen zu halten. Mit der Forschung zum broad autism phenotype wird die Betrachtung autistischer Symtome weit über den Bereich von Autimus als psychischer Störung ausgeweitet. Gleichzeitig wird sichtbar, dass insbesondere viele Frauen es schaffen ihren Autismus erfolgreich zu maskieren , und beshalb im Schnitt 8 Jahre später diagnostiziert werden als Männer.
Der Begriff des Respekts wird meistens verwendet um die Anerkennung von Respektspersonen also Autoritäten zu bezeichnen. Einer Wertschätzung gegenüber der Person kann dieser im Wege stehen.
Literatur
Brit Wilczek, Wer ist hier eigentlich autistisch?: Ein Perspektivwechsel, 2023
Tony Attwood, Michelle Garnett, Autism and Trauma , 2022
Megan Anna Neff, PTSD and Autism , 2024
Rachel Zamzow, Double empathy, explained , 2021
Yolande Loftus, What is the Broad Autism Phenotype? , 2023
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